2 Das Mittelspiel

 

Leider lassen sich die Grenzen zwischen Eröffnung und Mittelspiel nicht so klar ziehen. Die heutige Eröffnungstheorie reicht in den allermeisten Varianten bis weit ins Mittelspiel, außerdem kann bereits die Eröffnung einen Kampf bis aufs Blut bedeuten. Es gibt Situationen, in denen die Figurenentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, und trotzdem beide Spieler der Meinung sind, im Mittelspiel zu sein. Die Unterscheidung zwischen Eröffnung und Mittelspiel in einer Partie hat also mitunter etwas von einer Kunst, und der Spieler sollte sich ein gutes Gespür dafür zulegen, um seine Stellungen angemessen zu behandeln.

Das Mittelspiel ist das Herz der Partie, das Heim seiner Schönheit. Im Gegensatz zur Eröffnung ist Auswendiglernen hier nicht besonders hilfreich, sondern man benötigt ein tiefes Positionsverständnis, um hier bestehen zu können. Im Gegensatz zum Endspiel ist dieser Partie-teil höchst komplex, und in jeder Variante lauern Überraschungen und unvorhergesehene Wendungen. Ein Schachspieler mag mit Aussicht auf Erfolg den Plan fassen, das Mittelspiel einfach zu einem günstigen Endspiel abzuwickeln, aber er kann auch bereits im Mittelspiel auf eine Entscheidung drängen, vor allem, wenn er eine Schwachstelle in der Stellung des Gegners entdeckt. Entscheidungen im Mittelspiel besitzen häufig einen besonders hohen Unterhaltungswert, und am ehesten die Chance, zu schachlichem Ruhm und Ehre zu gelangen.

Drei Grundkomponenten machen das Schachspiel aus:

 

Materialvorteil lässt sich, von Nachlässigkeiten des Gegners abgesehen, über verschiedene taktische Methoden erreichen, insbesondere die Gabel, die Fessel oder den Spieß. Ausgenutzt wird der Materialvorteil am besten, indem strikt Figuren abgetauscht werden. Je weniger Figuren auf dem Feld stehen, um so stärker wirkt sich dieser Vorteil aus, außerdem hat der Gegner weniger versteckte Überraschungen, je einfacher die Stellung ist.

Der Gewinnweg strebt nach Vereinfachung der Partie. Außerdem zwingt sich der Spieler selbst, Ordnung in seine Gedanken zu bringen und Flüchtigkeitsfehler zu umgehen, unverzichtbare Basisfertigkeiten.


Stellungsvorteil auf dem Brett lässt sich am ehesten über eine saubere Behandlung der strategischen Elemente und des Zentrums erreichen. Ein kontinuierlicher Stellungsvorteil bewirkt meistens auf Dauer taktische Möglichkeiten, um einen Materialvorteil zu erzielen, gelegentlich lässt sich sogar ein aussichtsreicher Königsangriff herbeiführen.

Initiativevorteil lässt sich über eine saubere Behandlung der Eröffnung mit zügiger Entwicklung, sowie über ein Opfer erreichen. Verwenden lässt sich ein Initiativevorteil häufig zu einem Königsangriff, alternativ lässt er sich in einen Stellungsvorteil verwandeln, oder es stehen taktische Möglichkeiten zur Verfügung, mit denen der Spieler gelegentlich sogar ein Materialopfer in einen Materialvorteil umwandeln kann.

Um diese Grundkomponenten in den Griff zu bekommen, sollte der Spieler sich sowohl der Taktik als auch der Strategie bedienen. Es gibt mehrere Definitionen für die beiden Begriffe. (Beinahe synonym werden die Begriffe "Kombinationsspiel" und "Positionsspiel" verwendet.) Einfach, passend und zweckmäßig bezeichne ich alles, was im Schach berechnet wird, als Taktik, und was eingeschätzt wird, als Strategie. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Taktik und Strategie höchstens zu Lernzwecken und zur Verdeutlichung von elementaren Zusammenhängen sinnvoll. Eine Variante zu bestimmen ist eine Aufgabe der Berechnung, aber die sich daraus ergebende Stellung zu bewerten ist eine Sache der Einschätzung. Tatsächlich gibt es Extremsituationen, in denen eines dieser beiden Prinzipien beinahe in Reinform auftritt.

Der Normalfall ist aber eine gemischte Situation, die sowohl Variantenberechnung als auch Stellungseinschätzung erfordert.